Interview zum Europäischen Freiwilligenjahr"Ich habe unglaublich viel gelernt"
Als Freiwilliger für das Europäische Solidaritätskorps hilft Rasmus Conrad geistig behinderten Menschen in einer Dorfgemeinschaft in Schweden. Die Corona-Pandemie hat auch das Leben in Staffansgården, 300 Kilometer von Stockholm entfernt, verändert. Ein Interview über einen Dienst in besonderen Zeiten.
Dienstag, 26. Mai 2020
Was sind Ihre Aufgaben in Staffansgården?
Rasmus Conrad: Der Grundgedanke ist, dass wir Freiwilligen wie Freunde für die Bewohner sind. Wir organisieren besondere Dinge für sie: eine Halloweenparty, Cafés, eine Tipprunde oder auch ein Konzert. Gleichzeitig übernehmen wir regelmäßig Aufgaben wie das Putzen unseres Hauses, in dem wir mit den Bewohnern leben, oder die Pflege der sieben Busse.
Am Vormittag unterstützen wir die Bewohner bei ihrer Arbeit in den Werkstätten des Dorfs. Es gibt hier unter anderem eine Tischlerei, eine Weberei, eine Bäckerei, eine Großküche, ein Kunstatelier und einen Garten. Nachmittags steht vor allem Bewegung auf dem Programm: Schwimmen, Gymnastik, Uni-Hockey, Tanz und Yoga. Der Spaß steht dabei immer im Vordergrund.
Was hat sich durch die Corona-Pandemie bei Ihrer Arbeit geändert?
Conrad: Wir haben Mitte März die Werkstätten geschlossen, die sieben Häuser voneinander isoliert und die Einrichtung für externe Personen geschlossen. Seitdem verbringe ich die Zeit vor allem mit den Bewohnern meines Hauses: Zum Beispiel nehme ich oft einen meiner Mitbewohner mit zu einer der Werkstätten, die jetzt immer nur von einem Haus gleichzeitig benutzt werden, wir machen eine Radtour oder arbeiten im Garten.
Zu Beginn der Coronakrise haben wir hauptsächlich Schutzvisiere und -masken hergestellt, solange es Lieferengpässe gab. Seit April tragen wir Mundschutz und Arbeitskleidung, die wir täglich bei 60 Grad Celsius waschen, um die Bewohner vor einer Infektion zu schützen. Das hat bisher gut funktioniert.
Wie haben die Bewohner auf diese Veränderungen reagiert?
Conrad: Für viele Bewohner war es zu Beginn schwierig zu verstehen, dass sich ihr Alltag auf unbestimmte Zeit drastisch verändert. Viele brauchen ihre Routinen, um sich gut zu fühlen. Mit vielen Ausflügen in die Natur, Bootstouren, Gartenarbeit und Ähnlichem haben wir das aber bisher ganz gut überstanden.
Trotz all der aktuellen Herausforderungen: Was hat Ihnen bisher am meisten Spaß bei der Arbeit gemacht?
Conrad: Es macht mir unglaublich viel Spaß, mit den Bewohnern Zeit zu verbringen. Sie sind so direkt und ehrlich. Mit vielen kann man extrem gut herumalbern oder mal zu deren Lieblingsmusik eine spontane Party in der Küche starten. Auch die Tatsache, dass sich viele kleinste Details merken oder Fragen stellen, wie "Was passiert, wenn man Würstchen im Bus grillt?", führt zu sehr vielen witzigen Momenten.
Was war Ihr tollstes Erlebnis in der Freizeit?
Conrad: Im Nachhinein bin ich sehr froh, dass ich durch Schweden gereist bin, bevor das Ganze mit Corona losging. Einfach atemberaubend war die Aussicht auf die winterliche Berglandschaft aus dem Nachtzug kurz vor Abisko, 200 Kilometer nördlich vom Polarkreis, beim Sonnenaufgang. Die Baumgrenze liegt bei 700 Metern, also sind die Berge fast komplett weiß.
Es liegen noch ein paar Monate vor Ihnen, aber wenn Sie ein Zwischenfazit ziehen: Hat sich Ihr Engagement gelohnt?
Conrad: Definitiv. Ich habe unglaublich viel über Menschen mit Behinderungen gelernt und viele wirklich liebgewonnen. Sie verbergen ihre Gefühle und Ansichten nicht hinter eine Maske, sondern sagen dir offen und direkt, was sie denken und fühlen. Sie sind zu weitaus mehr fähig, als man vielleicht erwarten würde. Gleichzeitig habe ich auch noch sehr viel Neues über Schweden und die Region hier gelernt. Und obwohl meine Oma Schwedin ist, habe ich mein Schwedisch deutlich verbessert und mich in die Landschaft hier verliebt.
Und wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, sich als Freiwilliger für das Europäische Solidaritätskorps zu melden?
Conrad: Nach dem Abitur war für mich klar, dass ich für ein Freiwilligenjahr nach Schweden gehen möchte. Während meiner Suche nach einem geförderten Programm bin ich auf das Solidaritätskorps gestoßen. Dort habe ich mich weiter dazu informiert. Schließlich habe ich die Entsendeorganisation VIA e.V. und das Projekt in Staffansgården gefunden. Ich finde es toll, dass wir in Europa diese Möglichkeiten haben!